Mittwoch, 14. November 2012

Nietzsches Schweigen

 [...] noch jetzt schwankt nach einer Stunde sympathischer Unterhaltung mit wildfremden Menschen meine ganze Philosophie: es scheint mir so töricht, recht haben zu wollen um den Preis von Liebe, und sein Wertvollstes nicht mitteilen zu können, um nicht die Sympathie aufzuheben. (Nietzsche in einem Brief an Peter Gast vom 20. August 1880)

Warum denkt man Gedanken, von denen man, schon während man sie denkt, genau weiß, dass man sie niemals jemandem wird anvertrauen können? Wozu könnten sie dienen? Zur Selbstvergewisserung? Aber was hätte man davon, sich eines Selbsts im Geheimen zu vergewissern? Marx hätte sicherlich keine Probleme damit gehabt, sich mitzuteilen, weil er von etwas überzeugt war, für das er ohne Wenn und Aber kämpfen konnte: für die Selbstbefreiung des Menschen. Für ein solches Ziel braucht man sich nicht zu schämen. Im Gegenteil: Der emanzipatorische Grundimpuls dieses Denkens, dem das Insistieren auf Verwirklichung immanent ist, hat die Menschen vieler Generationen inspiriert und zu Taten animiert.

Anders verhält es sich mit Nietzsche, der mit Aristoteles davon ausgeht, dass es Menschen gibt, die bloß zum Dienen geboren sind. Ihr einziger Zweck bestehe darin, die Entstehung eines höheren Typus, heiße er Genie, freier Geist oder Übermensch, durch ihren Sklavendienst zu ermöglichen. Wie sollte jemand, der in seinem Denken so strikt und unversöhnlich zwischen den verschiedenen Erscheinungsformen menschlichen Seins unterscheidet, keine Probleme bekommen, wenn er sich mit Fremden unterhält? Das Traumbild, das ihm vorschwebte, fand er nirgends verwirklicht; nicht einmal Wagner, an dem er den symbolischen Vatermord meinte begehen zu müssen, ließ er gelten. Folglich hätte er jedem ins Gesicht sagen können: Sie sind nicht der, den ich suche. Das wäre die unfassbar unbefriedigende Konsequenz aus diesem Denken gewesen.

1 Kommentar:

  1. Man schwankt immer, wenn die Essenz seiner eigenen Ideologie als "Unecht" bewertet werden muss.

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